20 Dez

Culture Space

„Culture Space“ ist ein EFD-Projekt in Tukums. Das liegt in Lettland. Wir entsenden ja nicht selten nach Lettland. Ein Land der baltischen Staaten, die ja allesamt sehr „jung“ sind. In Tukums ist unsere Freiwillige Sarah. Sie ist nicht allein und schon gar nicht zu Haus‘. Aber das kann man am besten in ihren eigenen Worten lesen:

‘Ein EVS, der ist lustig. Ein EVS, der ist schön’, das sagen zumindest viel ehemalige EFDler. Im Juni 2017 – nach 10 Monaten Service Civique (französischer Freiwilligendienst) in der Normandie – hätte ich das auch sofort unterschrieben. Ein Jahr voller Höhen und Tiefen lang hinter mir, doch im Nachhinein war es das beste Jahr meines Lebens.

Mit ähnlichen Erwartungen bin ich dann vor etwa genau vier Monaten ins lettische Tukums gezogen, um einen EFD im örtlichen Tourismuszentrum zu machen, und habe damit meine Achterbahnfahrt 2.0 begonnen – der Ausgang ist bis jetzt noch ungewiss.

Auf den ersten Blick wird der EFD vor allem durch die Aufgaben in der Einsatzstelle definiert. Motiviert wie ich war, hätte ich mich also super gern zu Beginn sofort in meine Arbeit gestürtzt … Wenn es denn welche gegeben hätte.
Den Touristen konnte ich kaum weiterhelfen, war ich doch selbst kaum mehr als ein Tourist in Tukums. Und die Bewohner Tukums‘ sprechen in der Regel kein Englisch, sodass die Kommunikation einfach unmöglich war.
Lösung für das Problem? Die kleine deutsche Freiwillige kann doch erst einmal die Internetseite des Tourismuszentrums auf Vordermann bringen und ungefähr 250 Seiten auf Deutsch und Englisch korrigieren – jeweils. Eine Woche lang.
Eine Woche lang habe ich mich täglich zur Arbeit gezwungen und Texte übersetzt und korrigiert, die ich teilweise nicht einmal selbst verstanden habe. Dann hat es mir gereicht und nach einem längeren Gespräch mit meiner Chefin hat sich schnell Vieles verändert.
Mittlerweile gebe ich jeweils einmal pro Woche Deutsch- und Englischunterricht (auch wenn das von den Bewohnern Tukums’ nicht so gut angenommen wird, wie ich es mir erhofft hatte), habe eine Bücherbörse und einen Weihnachtsmarkt initiiert, war in mehreren Jugendeinrichtungen, um Werbung für den EFD zu machen, und habe mehrere Themenabende über Frankreich und Deutschland organisiert. Außerdem durfte ich mit meiner Kollegin zusammen in ganz Lettland Restaurant- und (was noch viel besser war) Spielplatztesterin spielen – mein neuer Traumjob. Auch wenn es nicht immer einfach ist, über Probleme direkt zu reden, ein bisschen Eigeninitiative zahlt sich also definitiv ziemlich aus 😉

Aber auch das private Leben hält mich ziemlich auf Trab. Ich lebe im Zentrum von Tukums (1,5h mit dem Zug von Riga entfernt) in einer WG mit mehreren Freiwilligen (einer Griechin, einer Norwegerin und einer Slowakin) zusammen, was sich mittlerweile als schwerer herausstellt als erwartet.
Zum einen sind die Lebensbedingungen in Lettland in keiner Weise mit denen in Deutschland zu vergleichen. Und auch wenn unsere Wohnung für lettische Verhältnisse echt nicht schlecht ist, schaffe ich es nicht so wirklich, mich dort wohlzufühlen. Zum anderen sind meine Mitbewohner und ich sehr verschieden (was aber definitiv nicht negativ gemeint ist), sodass wir oft Diskussionen führen und teilweise auch schon einmal genervt von einander sind, wenn das Shampoo wieder einmal leer ist und es keiner gewesen sein will … Aber ich glaube, das ist einfach der ganz normale Wahnsinn, und am Ende schaffen wir es (eigentlich 😉 ) immer, uns wieder zusammenzuraufen.
Glücklicherweise habe ich einen ziemlich guten Leichtatheltik- und noch viel besseren Fechtverein gefunden, sodass ich mich nach der Arbeit dort so richig austoben (und so zur Not meinen Mitbewohnern ziemlich gut aus dem Weg gehen) kann …

Ansonsten hat aber auch die lettische Natur ziemlich viel zu bieten, wenn man ein bisschen Zeit nur für sich braucht. Wir wohnen praktisch direkt neben einem großen Sumpfgebiet, wo man sehr gut wandern kann – wenn man denn nicht untergeht. Und auch das Meer ist nur 1,5h mit dem Fahrrad bzw. 30 Minuten mit dem Zug entfernt.

Und dennoch erwische ich mich immer wieder dabei, dass ich mit der rosaroten Brille auf der Nase zurück an meinen Service Civique in Frankreich denke. Aber ich kann und darf Lettland weder mit Deutschland noch mit Frankreich vergleichen. Die Menschen hier haben (verständlicherweise) eine komplett andere Sichtweise auf die Welt, andere Hoffnungen und Ängste, die ich als Mitteleuropäerin leider oft nicht nachvollziehen kann, aber definitv akzeptieren und respektieren muss. Letten sind eher verschlossen, ziemlich patriotisch, aufgrund ihrer Vergangenheit fast schon nationalistisch. Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten vier Monaten bereits über Flüchtlinge gesprochen habe und mit teilweise sehr erschreckende Kommentare anhören musste – aber auch das muss ich akzeptieren.

Und so gibt es natürlich Momente, in denen ich zweifle; meine Freunde und Familie vermisse. Heimweh habe. Oder Fernweh. Letztes Jahr habe ich mich ziemlich schnell in der französischen Gesellschaft aufgenommen gefühlt, auch weil ich keine Wahl hatte. Eine Deutsche unter vielen Franzosen.
Hier lebe ich in einer internationalen Blase, ich spreche den ganzen Tag Englisch und vor allem in Riga leben gefühlt mehr internationale Studenten als lettische. In Tukums sind wir allein sechs Freiwillige, die leider immer über einen Kamm geschert werden. So bleiben unseren wahren Persönlichkeiten, Wünsche, Vorstellungen und Fähigkeiten manchmal einfach auf der Strecke. Wie gern würde ich diese internationale Blase verlassen, ein bisschen Abstand gewinnen, was sich ohne Lettischkenntnisse aber durchaus als schwierig gestaltet – denn mit der Sprache stehe ich offiziell auf Kriegsfuß. Aber insgeheim bin ich auch einfach nur froh, meine Mitfreiwilligen zu haben. Ich weiß immer, wo ich sie finde. Rund um die Uhr, 24/7. Fluch und Segen zugleich.

Ich habe lange darüber nachdenken müssen, wie ich diesen Text am besten schreibe, und auch jetzt bin ich nicht ganz zufrieden mit dem Endergebnis. Worte können dem, was ich in den letzten vier Monaten erlebt habe, einfach nicht gerecht werden. Vieles hört sich negativer an als es letztendlich gewesen ist und ich weiß, dass ich aus jedem noch so großem oder kleinem Problem gelernt habe und noch lernen kann und werde. Denn schließlich bin ich nach Lettland gezogen, um die Herausforderung, wenn nicht sogar die Konfrontation zu suchen. Um herauszufinden, wozu ich im Stande bin, wie weit ich gehen kann. Ob ich über mich hinauswachsen kann. Ich wollte selbstständig sein, Verantwortung übernehmen können. Hier in Lettland kann ich all dies nicht nur, ich muss es auch.
Und das ist definitiv das Beste, was mit hätte passieren können.

 

Wem das auch so gut gefällt was und vor allem wie Sarah so schreibt, der findet hier noch mehr von ihr!